„Gegen das System und die Gewerkschaftsbonzen.“ Wilde Streiks und linksradikale Kritik an den Gewerkschaften in der Bundesrepublik in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren
Referat im Panel Fabrikgesellschaft. Kritik am Preis des Wohlstands im „Wirtschaftswunder“
Nachdem der erste konjunkturelle Einbruch 1966/1967 in der Bundesrepublik relativ rasch überwunden worden war, manifestierte sich in den sogenannten „wilden“ Streiks im September 1969 ein aufgestauter Unmut vieler Beschäftigten. Die Gewerkschaften hatten sich bei Lohnforderungen einige Jahre zurückgehalten und dadurch zur Rückkehr zum Wirtschaftswachstum und zur Vollbeschäftigung beigetragen. Zahlreiche Lohnabhängige hatten den Eindruck, nicht adäquat an der erneuten Aufwärtsentwicklung beteiligt zu werden. Von der Hoesch AG in Dortmund breiteten sich spontane Protestaktionen schliesslich im ganzen Bundesgebiet aus. Auch in der chemischen Industrie beteiligten sich Lohnabhängige in über 40 Betrieben daran. Diese Branche zeichnete sich traditionell durch eine sozialpartnerschaftliche Struktur aus. Dennoch brach dort wenig später im Jahr 1971 der erste und einzige Flächenstreik in der chemischen Industrie in der Bundesrepublik aus.
Im Zuge der 68er-Bewegung hatten sich viele linksradikale Gruppen gegründet. Sie versuchten in den betrieblichen Auseinandersetzungen die Beschäftigten zu agitieren und ihre Positionen zu vermitteln. Die linksradikalen Gruppierungen erklärten sich solidarisch mit den Arbeitskämpfen, kritisierten aber zugleich die Gewerkschaften für ihre reformistische Haltung und systemstabilisierende Funktion. Ihre inhaltlichen Positionen erstreckten sich vom Marxismus-Leninismus bis hin zum Operaismus. Zwar waren diese Gruppierungen rein quantitativ nicht so zahlreich, aber sie können als epistemische Sonde dienen, um unterschiedlichen Formen der Kritik am kapitalistischen System und dem Normalarbeitsverhältnis noch vor dem Ende der „trente glorieuses“ herauszudestillieren. Im Vortrag sollen kurz die Hintergründe der „wilden“ Streiks von 1969 sowie des Chemiestreiks 1971 skizziert werden, um dann die kapitalismuskritischen Positionen einiger linksradikaler Gruppierungen beispielhaft darzulegen.