Reichtum

«Enrichissez-vous par le travail et l’épargne» («Bereichert Euch durch Arbeit und Sparsamkeit»)! Mit diesen Worten soll der französische Regierungschef (und Historiker!) François Guizot im Jahr 1848 die Arbeiterklasse dazu ermahnt haben, unter den Bedingungen des Zensuswahlsystems selbst für die Erweiterung ihrer Bürgerrechte besorgt zu sein. Die Weisung reich zu werden, gilt also nicht nur als Triebfeder der individuellen Entfaltung, sondern auch des kollektiven Fortschritts. Das gilt für die westliche Moderne, lässt sich aber auch auf viele epochenübergreifende historische Zusammenhänge übertragen. Reichtum wurde in der Geschichte immer wieder zum Horizont kultureller Imaginationen und politischer Projekte, zum Ziel produktiver Tätigkeiten und zum Gegenstand sozialer Konflikte, theoretischer Auseinandersetzungen und wissenschaftlicher Modellierungen.

Das Zitat von François Guizot verweist auf die Zweideutigkeit des Begriffs Reichtum: Er bezeichnet die Fülle an materiellem Besitz ebenso wie an geistigen oder moralischen Werten. Die Soziologie hat darauf hingewiesen, dass sich im Reichtum verschiedene Sorten von Kapital (ökonomisches, soziales, politisches, symbolisches) kumulieren, die untereinander konvertibel sind (Pierre Bourdieu). Das Streben nach Reichtum ist für Gesellschaften und Individuen handlungsleitend und organisiert Konzepte von Fortschritt und Geschichte. Doch ein epochen- und kulturübergreifender Blick erschliesst auch ganz andere Denkansätze. Während in der Antike materieller Reichtum häufig als Ergebnis des spirituellen Reichtums aufgefasst wurde, galt im europäischen Mittelalter beides vielfach als unvereinbar. Die Kritiker der sozialen Ungleichheit im Christentum und später im Marxismus verurteilten die individuelle Vermögensakkumulation und forderten zugleich eine stetige Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums. In der kolonialen Expansion begegneten dem Westen sogar Gesellschaften, die das Konzept des Reichtums gar nicht kannten.

Die Diskussion theoretischer Ansätze sowie epochenübergreifend und global angelegter Gegenüberstellungen historischer Fallstudien zielt darauf, die Selbstverständlichkeit aktueller Wahrnehmungen von Reichtum zu hinterfragen. Wir möchten die Tagung entlang von vier Reflexionsfeldern organisieren, die Ressourcen, Arbeit, Macht und Wissen in den Vordergrund stellen.

 

Ressourcen

Zahlreiche historische Fragerichtungen nähern sich dem Thema des Reichtums über den Umgang mit Ressourcen. Im Lauf der Jahrhunderte standen wechselnde natürliche Ressourcen im Mittelpunkt von Phantasien über den schnellen Reichtum (Eldorado, Bodenspekulation, Oil Rush) und von oft gewalttätigen Versuchen ihrer Aneignung. Gleichzeitig gehörten Regimes der Verteilung, der Nutzung und des Schutzes von Ressourcen (Commons-Debatten, Property Rights, conservation) zu den zentralen Gegenständen politischer Auseinandersetzungen. Modelle der intergenerationellen Weitergabe von Ressourcen prägten nicht nur Familienformen und Genderregimes der Vormoderne (Patrilinearität, Primogenitur, Mitgiften), sondern stehen auch heute wieder im Mittelpunkt von Debatten über Ungleichheit (Thomas Piketty), während an intergenerationellen Zielen orientierte Investitionen zu wichtigen Feldern der Finanzindustrie gehören (Lebensversicherungen, Family Office, Vermögensverwaltung). Annäherungen an spezifische kulturelle Konzepte des Reichtums bieten die Untersuchungen von Formen des Hortens und Zurschaustellens von Reichtum durch wertvolle Materialien (Schätze, Gold, Edelsteine) ebenso wie Forderungen nach Askese und Verbindungen bestimmter materieller Dinge mit spirituellem Reichtum und Handlungsmacht (Reliquienkult, Totemismus, Fetischismus). In der post-industriellen Gesellschaft werden nun immaterielle Ressourcen (darunter auch die Authentizität oder die Geschichtlichkeit) auch zur Basis der materiellen Bereicherung. Bildung etwa ist zu einer wichtigen Ressource erklärt worden, mit der Nationen sich Vorteile im Standortwettbewerbe erhoffen. Allerdings haben die Soziologie und die Bildungsforschung gezeigt, dass gerade die Bildung ein Transmissionsriemen ist, mit dem Eliten ihren Vorsprung an die nächste Generation übertragen.

Arbeit

Durch Arbeit reich wurden auch im Gefolge der (protoindustriellen und) industriellen Revolution die wenigsten. Allerdings rückte damals der Zusammenhang zwischen Arbeit und Reichtum in den Mittelpunkt von Versuchen, den Kapitalismus zu theoretisieren. Beispiele sind Modelle über Produktivitätssteigerung durch Arbeitsteilung (Adam Smith), über die Entfremdung von Arbeit durch das Kapital (Karl Marx), über die protestantische Arbeitsethik (Max Weber) und, viel später, über die globale Arbeitsteilung als Grundlage globaler Ungleichheiten (Immanuel Wallerstein).

Grundlegend andere Modelle brachten sowohl die Vormoderne als auch wieder die jüngste Zeit hervor. In der europäischen Antike und im Mittelalter fehlten den modernen vergleichbare Begriffe von Arbeit und Ressource. Stattdessen verstand man Probleme der Verteilung von Reichtum stärker von Privilegien und der Prämierung von Selbstvervollkommnung (z. B. als Stoiker, Kleriker, Ritter) her. Und auch heute plädieren wieder viele für eine Entkoppelung von Arbeit und Reichtumsverteilung bzw. Existenzsicherung. Rationalisierung, Mechanisierung und Digitalisierung führen zu einer so hohen Produktivität der Arbeit, dass uns diese auszugehen scheint. In einigen neuen Wirtschaftszweigen bleibt der Zusammenhang zwischen Arbeit und Wertschöpfung ungewohnt diffus, z. B. wo Güter historisch-patrimonial angereichert werden (Luc Boltanskis und Arnaud Esquerres «enrichissement») oder wo sich Anbieter digitaler Dienste an der Nutzung von Konsumentendaten bereichern. Unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen bauen unvermindert – oder sogar zunehmend – auf unbezahlter (Frauen-) Arbeit auf, etwa in der Form von zivilgesellschaftlichem Engagement oder von Care-Arbeit. Zudem wirkt sich ein Ungleichgewicht in den Zugangschancen zu entlohnter Arbeit («Generation Praktikum») auch auf die Gestaltung des Raumes aus, etwa durch die Verdrängung der sozial benachteiligten Schichten aus den Innenstädten oder die Verlagerung der industriellen Produktion in ärmere Weltregionen, in denen durch den erheblichen Marktdruck manchmal sogar kriminelle Praktiken wie moderne Sklaverei oder Kinderarbeit gestärkt werden.

Macht

Auf den Zusammenhang zwischen Reichtum und Macht verweist in der deutschen Sprache schon das Wort Reich als Bezeichnung der höchsten Form der Herrschaft. Reichtum kann einerseits als ein Machtinstrument, als Repräsentationsmedium oder gar als Synonym von Macht in Erscheinung treten, andererseits diese aber auch unterwandern oder diskret angreifen.

In der Verschränkung mit Eigentumsordnungen bedeutet Reichtum Macht: etwa in feudalen Verhältnissen, wo das Landgut zum Herrschaftsraum wird, oder in Sklavenhaltergesellschaften, wo das Recht auf die Arbeitskraft auch die Verfügungsgewalt über ein Leben miteinschliesst. Reichtum erlaubt politische Kampagnen zu finanzieren, Ämter zu kaufen oder den Herrschaftsraum mit Kriegsmitteln zu erweitern. Gerade im Rahmen von Kolonialismen und Imperialismen hat die Annexion von Reichtum langwierige Auswirkungen auf globale Ungleichheiten. Der Zugang zu Reichtum und seine Legitimität ist jedoch durch einen hohen Grad von Geschlechterungleichheit und rassistischen Vorurteilen gekennzeichnet. Die Figur der «reichen Frau» ist genauso mit negativen Verurteilen besetzt wie der jüdische Händler, der Parvenü, oder der reiche Mestizo im Kolonialraum, denen Besitzlegitimität abgesprochen wird.

Reichtum beschränkt sich nicht auf ökonomische Werte, sondern kann sich auch in kulturellen Eigenschaften wiederfinden, mit Werten wie Weisheit, Tugend, Klugheit assoziiert werden und herrschaftslegitimierend wirken. Gleichzeitig dient Reichtum als Medium der Repräsentation von Macht, etwa wenn Souveräne sich mit prachtvoller Ausstaffierung repräsentieren lassen, oder wenn Münzen als Ausdruck des Reichtums und symbolisches Verkehrsmittel der Macht zirkulieren, im Prestigekonsum durch Eliten, in Prunkbauten oder gigantischen Infrastrukturprojekten, die Kirche oder weltliche Macht zur Schau stellen.

Um soziale Konflikte abzufedern und die gesellschaftliche Kohäsion zu stärken, haben viele Gesellschaften Steuersysteme entwickelt, die auch auf die Reichen ausgerichtet sind (etwa die Erbschafts- und Vermögenssteuern), sowie Formen der Kontrolle von Korruption ausgebildet. Dazu kommen regulierte Formen des Reichtumsverbrauchs, etwa der Potlatch als Vermögensvernichtung (Marcel Mauss), der Euergetismus in der griechisch-römischen Antike, die Almosen im Islam, die Caritas in christlichen Gesellschaften oder Wohltätigkeitsstiftungen.

Wissen

Im Zusammenhang mit der europäischen Expansion wurde die Entwicklung verschiedener Wissensgebiete (Geographie, Wissen über natürliche Ressourcen und über andere Zivilisationen) eminent wichtig, um an Reichtümer zu gelangen. Gleichzeitig bemühten sich Staaten um eine Rationalisierung ihrer Finanzen.

Formen der Zurschaustellung und des Erkennens und Vergleichens von Reichtum ebenso wie Grundsätze der Geldwertregulierung und der Schätzung von Steuersubstraten lassen sich bis in die Gesellschaften des Altertums zurückverfolgen. In der Frühen Neuzeit avancierte die Statistik, die im Auftrag der aufsteigenden Nationalstaaten Daten erhob, um deren Wirtschaftsleistung zu messen und staatliche Abschöpfungen zu optimieren, zur Schlüsseldisziplin.

Die Idee der «Politik der grossen Zahlen» (Alain Desrosières) rückte auch ins Zentrum der Volkswirtschaftslehre. Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich internationale Organisationen wie die UNO und die OECD um eine internationale Anpassung der Methoden zur Ermittlung der volkswirtschaftlichen Kennziffern. Die Erschaffung von statistischen Standards (Industrialisierungsgrad, Pro-Kopf-Einkommen, Alphabetisierungsrate etc.) und die Ausarbeitung von Theorien zur wirtschaftlichen Entwicklung der neuen Länder des Südens gingen dabei Hand in Hand.

Seit den 1970er Jahren geriet das Entwicklung- und Wachstumsparadigma der Volkswirtschaftslehre unter Kritik durch den Aufstieg ökologischer Interventionen. Die Modernisierungstheorie stand nun unter dem Verdacht, eine Erbschaft kolonialer Wissenspraktiken zu sein. Seitdem gewannen andere Modelle an Attraktivität, die mit dem Reichtumsideal konkurrieren und auf alternativen Werten wie Glück, Lebensqualität oder Nachhaltigkeit beruhen. In jüngster Zeit rückten diese auch in den Fokus sozialwissenschaftlicher Forschung und sogar von kapitalistischen Vermarktungsstrategien.

 

Die vier Reflexionsfelder zeigen die Vielfalt der Diskurse und Praktiken auf, die die Idee des Reichtums im Laufe der Zeit geprägt und verändert haben. Ihre gesellschaftliche Bedeutung im Licht dieser geschichtswissenschaftlichen Befunde zu überdenken, wird ein Hauptziel der Fünften Schweizerischen Geschichtstage sein.